Die Netzpolitik ist tot! Lang lebe die Netzpolitik!

Es hat schon einen gewissen Charme, auf der Konferenz "10 Jahre Netzpolitik" die Abschaffung eben dieser einzufor­dern. Und dann auch noch durch ihn: Volker Grassmuck, Professor für Mediensoziologie, Gott des Quelloffenen, Verfechter der Netzneutralität.

Das Ende der Netzpolitik? Zu oft an der Mate genippt? Zu viel Katzen­content konsumiert? Nein. Grassmuck brachte auf der Veranstaltung am vergangenen Freitag schlicht eines auf den Punkt: Das Digitale durchdringt alles, Kommunikationstechno­logie beinhaltet und prägt alles, Gesellschaft, Wirtschaft und sämtliche Politikfelder. Grassmucks Botschaft an die Organi­satoren und Teilnehmer ist daher nur konsequent: Vergesst diese künstliche Abspaltung namens „Netzpolitik“, macht „Gesell­schaftspolitik“. (Nichts anderes belegen die drei Internetminister und die Digitale Agenda Deutschlands – und das klingt nicht umsonst wie ein neu aufgelegter Louis de Funès-Film.)

Über das Ausloten und Gestalten in der Turing-Galaxie

Wie so eine Neuinterpretation gelingen kann, das diskutierten am 17. Oktober über 30 Referenten in der Berliner Kulturbrauerei: Rüdiger Weis, Julia Kloiber, Thomas Lohninger, Constanze Kurz – und natürlich Markus Beckedahl, Anna Biselli und André Meister, um nur einige zu nennen. Neben dem Ritt durch eine Dekade netzpolitik.org standen die Themen Überwachung und Privat­sphäre, Urheberrecht und Journalismus, Netzneutralität und Zensur auf dem Programm – inklusive Selbstkritik („Wir haben noch keinen Zugang zum Europarat.“).

Auffällig: Es waren wohltuend viele internationale Ansichten vertreten: Juristen, NGO-Vertreter, Wissenschaftler aus den USA, Guatemala, Österreich, Frankreich, Polen und den Niederlanden öffneten den Blick auf andere Länder, andere Systeme und andere Strategien. Denn hier war man sich einig: Wenn digital grenzenlos und wenn alles politisch ist, dann lässt sich eine gemeinsame Schlagkraft für die Sache nur global entfalten. Das erinnert nicht nur zufällig an McLuhans Konzept des Global Village, der Welt als elektronisch vernetztes Dorf. Ein zusätzlicher Baustein dafür wurde im Rahmen der Konferenz gelegt.

Neuverhandlung der Diskursmacht

Ein weiteres Fazit, das Grassmuck auf der Bühne zog: Als Zivilgesellschaft stehen wir mitnichten am Beginn einer neuen Ära namens Post-Digitalität (überhaupt: ein selten undif­ferenzierter Begriff, der eine Überwindung des Digitalen mit­schwingen lässt). Und wir stehen genau so wenig vor einem Rückzug ins Private, Lokale. Stattdessen ist das Digitale tief und vielschichtig in unser Leben eingebettet. So sehr, dass wir es oft genug als selbstverständlich nehmen. Ohne Frage wird die Vernetzung und automatisierte Kommunikation zwischen physikalischen Einheiten, also Gegenständen diese Wahrnehmung nochmals beschleunigen – Stichwort Industrie 4.0 & Internet der Dinge.

Das Fazit dieses Fazits: Umso wichtiger wird es für eine weltweit vernetzte Gesellschaft und ihre Bürger zu verstehen, welche digitalen Architekturen sie da eigentlich nutzen, welche vorgefer­tigten Zugänge und welche verschlossene Türen Hard- und Software beinhaltet, welche Handlungsoptionen und -blockaden daraus erwachsen. Und nicht zuletzt: wer diese gestaltet und davon profitiert – machtpolitisch, geostrategisch, ökonomisch.

Alles ist connected, (noch) nicht erleuchtet

Natürlich kratzt die Betrachtung einzelner Technologien und ihrer Anbieter nur an der Oberfläche. Sie sich genau anzuschauen bleibt trotzdem wichtig. Hinter ihnen verbergen sich die großen Fragen:

  • Wer darf beim notwendigen, komplexen Systemupdate in Deutschland mitmachen, wer nicht?
  • Code verändert Welt, code is law, aber wie steht es mit Code-Ethik?
  • Welche Auswirkungen haben laufende politische und wirtschaftliche Prozesse wie Überwachung, Leistungsschutzrecht und Informationsverteilung auf den Einzelnen?
  • Auf demokratische Werte und Systeme im Allgemeinen?
  • Auf Zukunft, Innovation, Partizipation?
  • Und wer darf diese Fragen stellen, darf wie darüber berichten, den Diskurs anstoßen und gestalten?

Alles Fragen, denen sich netzpolitik.org konsequent widmet, gerne auch mal unbequem. So unbequem, dass trotz des Konfe­renztitels „10 Jahre Netzpolitik“ keine Politiker auf der Bühne standen und nur vereinzelt im Publikum gesichtet wurden (ganz anders als beim gestrigen Nationalen IT-Gipfel, bei dem u.a. die ungewollte De-Mail neuen politischen Support erhält). Das mag mit Pragmatik, gewiss auch mit einem Maß Enttäuschung und Unverständnis auf beiden Seiten zu tun haben. Interessanter wird es aber, in der nächsten Dekade einen Schritt aufeinander zuzugehen, die Sprache der anderen Seite(n) besser zu verstehen und sprechen zu lernen, trotz allem miteinander zu streiten, um die Sache. Ja, das ist ein dickes Brett. Aber wer hat behauptet, dass Komplexität einfach ist? Es braucht Bewegung, Interesse, Offenheit und Austausch – und hier schaue ich vor allem Richtung Politik.

Re:building bridges

„Fight for your digital rights!“ – so lautete übrigens das Konferenz­motto. Kämpfen, das zeigt uns netzpolitik.org im zehnten Jahr mit einer hohen Schlagzahl täglicher News und Diskussionen, kämpfen funktioniert auch mit dem feinen Florett der Fragen. Zum Beispiel diese hier: Welche konkreten Maßnahmen muss die Politik jetzt vorlegen, damit die Digitale Agenda nicht eine leere Worthülse, ein zahnloser Tiger bleibt? Wie kann Deutschland mit einer funktionierenden, nachhaltigen Digitalstrategie zumindest den Anschluss halten? Wie kann die Digitale Agenda so implementiert werden, dass sie zeitgemäß und zukunftsgerichtet in einem ist – und sich dabei an allen
Stakeholdern ausrichtet?

Danke für 10 Jahre Nachfragen, für den unermüdlich-organisierten Einsatz für ein freies, offenes Netz und herzlichen Glückwunsch zum 10-Jährigen, netzpolitik.org. Um mit Grassmuck zu schließen:

Prost auf die baldige Selbstabschaffung!


Disclaimer 1: Ich habe die Konferenz ab dem frühen Nachmittag verfolgt.
Disclaimer 2: Netzpolitik.org wurde in diesem Jahr mit dem „Grimme Online Award“ ausgezeichnet, in dessen Jury ich berufen bin.

Digitaler Zettelkasten™
„Die Digitale Agenda ist zu wenig visionär“ Welt.de / Thomas Heuzeroth (21.10.2014) „Gute Absichten verlegen keine Leitung“ Süddeutsche.de / Helmut Martin-Jung (20.08.2014) „38 Seiten Angst vor festen Zusagen“ ZEIT Online / Johannes Wendt (19.08.2014)

 

Popkulturelles Kontextwissen
Öfter mal bei Louis de Funès reinschauen und – anstatt ranten – bei einer gemeinsamen Tasse Bier eine neue Sprache erfinden.