Kreative Wertschöpfung – Neues zum digitalen Binnenmarkt

Das "Level Playing Field" ist ein besonderer Ort. Hier treffen sich alle Beteiligten eines Marktes, einer Industrie – unter exakt gleichen Bedingungen. Genau das soll der geplante digitale Binnenmarkt der EU ermöglichen. Ist das möglich?

Der 26. Oktober 2015. Es ist 7 Uhr morgens, als mich mein Gegenüber im Zug Richtung Brüssel anspricht: „Some interesting stickers you’ve got there on your laptop.“ Sein Name ist Rich, Startup-Unternehmer der digitalen Wirtschaft. Einer dieser Nomanden, die von überall arbeiten (er pendelt beruflich zwischen Köln und London) und dessen Geschäftsmodell sich aus Daten speist. Dass die Veranstaltung, die ich an diesem Tag besuchen werde, sehr viel mit seiner Arbeit zu tun hat, zu tun haben wird, ahnt er nicht.

Denn machen wir uns nichts vor: Der „Digitale Binnenmarkt“ lässt vor allem passionierte Volkswirtschaftler und Politiker aufhorchen – nicht den Agentur-Gründer, den Gamestudio-Inhaber, den erfolgreichen eBook-Autor oder den etablierten Filmemacher. Dabei sind es genau diese kreativen, digitalen Unternehmer, die vom europaweiten Binnenmarkt profitieren könnten. Gäbe es das an diesem 26. Oktober so oft zitierte Level Playing Field.

Europas fallende (Handels-) Grenzen

Doch zuerst zu den Grundlagen: Gleich zwei führende EU-Köpfe zeigen sich in Brüssel dafür verantwortlich, den digitalen Binnenmarkt umzusetzen. Ihre Namen: Andrus Ansip und Günther H. Oettinger. Ihr Ziel: die Schaffung eines Digital Single Market. Ihr Vorhaben: EU-weit sollen die digitale Wirtschaft und die Konsumenten profitieren – von wegfallenden Handelsbarrieren und vereinheitlichten Regeln. Der damit entstehende europaweite Binnenmarkt soll wiederum als kontinentaler Wachstumsmotor dienen.

Dass das Internet jedoch nicht ausschließlich eine Infrastruktur des Marktes ist und von verschiedenen Marktteilnehmern unterschiedlichst genutzt wird, sondern dass das Netz darüber hinaus unabhängige Plattformen für gesamtgesellschaftliche Prozesse (Bildung, Wissenschaft, demokratischer Diskurs) ermöglicht, macht den digitalen Binnenmarkt zu einer vielschichten und delikaten Angelegenheit.

Die Ebnung des Level Playing Field

Wie delikat, das zeigte sich an diesem 26. Oktober in der Landesvertretung NRW in Brüssel. Hier versammelte das Grimme-Institut im Namen der Landesregierung verschiedene Stakeholder aus Wirtschaft und Politik, um digitale Wertschöpfung in allen Facetten zu diskutieren. Und schnell wurde klar, dass die drei beteiligten Lager (der Markt, die Kreativen und der Kunde) vom Level Playing Field nicht zwangsläufig kompatible Vorstellungen haben:

Den Auftakt machte Staatssekretär Marc-Jan Eumann, gefolgt von Frauke Gerlach. Die Direktorin des Grimme-Instituts öffnete das Feld mit einer Forderung: Nicht nur Politik und Wirtschaft müssten sich ihrer Verantwortung im digitalen Marktgeschehen bewusst sein. Als Dritter im Bunde müsse sich der Nutzer stärker ins Geschehen einbringen. Mehr Eigenverantwortung, mehr Johnny Rotten, mehr Punk auf Konsumentenseite.

Dann betraten der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft & Gesellschaft, Günther H. Oettinger und RTL-Chefin Anke Schäferkordt die Bühne. Zwar betonten beide, wie stark die Kreativindustrie in Deutschland & Europa ist. Doch sehr schnell rückten sie nicht mehr den Kreativen, den Gründer und seine schöpferische Leistung in den Mittelpunkt. Sondern die Forderungen der Content-Aggregatoren nach einem, Achtung: Level Playing Field für gleiche Wettbewerbsbedingungen. Immerhin: Einigkeit herrschte zwischen beiden, dass die Europäische Kommission mit einer auf digitale Entwicklungen angepassten Reformgeschwindigkeit reagieren müsse (wohl wissend, dass „Reformgeschwindigkeit“ oft genug ein reines Oxymoron ist).

Arena digitalis – Spielfeld Datenschutz 

Deutlich kontroverser ging es in der Diskussion um „Datenschutz: Eine Chance für Europa“ zu: Mit zwei Verbandsvertretern stritt Paul F. Nemitz unbeirrt im Namen des Nutzers. Nemitz, Direktor für Grundrechte der Europäischen Kommission, ist ein Glücksfall für jeden Bürger und Bürgerrechte im digitalen Zeitalter: „Wir wollen privacy by default, privacy by design“, entgegnete er den Forderungen von Claus Grewenig (Geschäftsführer VPRT) und Dr. Bernd Nauen (Geschäftsführer ZAW & DDOW), die sich erweiterte Regulierungen wünschen – beispielsweise für die datenschutzrechtlich diskussionswürdige Pseudonymisierung und Opt-out-Werbetargetierung.

Statt mit solchen Forderungen beim Verbraucher Unsicherheit darüber zu schüren, welche Daten denn nun von ihm erhoben, verwertet, verkauft werden, sprach sich Nemitz für eine nachhaltige Abwägung zwischen individuellen und unternehmerischen Interessen aus. Denn wenn fortlaufend und rein marktkonform dereguliert würde, könne kein Nutzervertrauen hergestellt werden. Und wo kein Vertrauen, da kein Nutzer. Die Auswirkungen sind absehbar verheerend und treffen besonders die für Europa so wichtigen Startups, so Nemitz. Ein starker Datenschutz hingegen sei ein maßgeblicher Wettbewerbsvorteil für den gesamteuropäischen Standort – genau das beschrieb Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, jüngst in diesem Essay.

Arena digitalis – Spielfeld Specialized Services

Krankheitsbedingt ging es in der anschließenden Werkstatt dann ohne einen Startup- & Kreativvertreter weiter. Das Thema: „DIGITALE WERTSCHÖPFUNG – Kreativität, Werte und mediale Innovation“. Interessant war schon allein die Zusammensetzung der geladenen Experten (an dieser Stelle ein Lob an die Organisatoren für die multiperspektivische Besetzung): Es fanden sich u.a. Vertreter des WDR, der Mediengruppe RTL, der Deutschen Telekom sowie wissenschaftliche Akteure der Prognos AG und der Universität Köln an einem Tisch zusammen. (Disclaimer: Ich gehörte zum Expertenkreis und nahm mit fünf eigenen Thesen und im Namen der Kreativwirtschaft aktiv an der Diskussion teil.) Viel mehr lässt sich an dieser Stelle nicht sagen, denn die Inhalte der Werkstatt sind nicht-öffentlich.

Wer bei dieser Diskussion allerdings fehlte: Rich, der pendelnde Startup-Unternehmer, der mich morgens im Zug ansprach. Seine Stimme, sein Realitätsabgleich fehlten, als wir über pragmatische Regulierung, Remix Culture, die Stärkung der Kreativen und echte Netzneutralität debattierten. Stellvertretend für die kraftvolle Gründerszene Europas hätte Rich zusätzlich darlegen können, weshalb Spezialdienste im Internet sich nicht vor-, sondern nachteilig auf den Löwenanteil der Startups auswirken. Und dass politische Gestaltung nicht nur bei Infrastruktur-Anbietern und Aggregatoren ansetzen sollte – diesen zwei Parteien, die sich auf professionelles Lobbying verstehen. Sondern dass Politik eine regulatorische Balance zwischen allen Interessen herstellen muss, das heißt: mit gutem Augenmaß auch dort wirkt, wo Kreativität konsumiert wird (beim Kunden) und dort, wo digitale Wertschöpfung beginnt (beim Kreativen, beim Gründer).

Erst dann wird das Level Playing Field Realität, wird es zur fairen Spielfläche für alle Beteiligten. Mit der Veranstaltung ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung gemacht worden. Wie es weitergeht, wird sich in naher Zukunft zeigen: Die Ergebnisse der Werkstatt sollen in konkrete politische Handlungsempfehlungen münden und veröffentlicht werden. Man darf gespannt sein.

Digitaler Zettelkasten™
Ein guter Rückblick über die Diskussion zwischen Oettinger und Schäferkordt zur AVMD-Richtlinie und über die sich anschließende Kontroverse zum Datenschutz findet sich auf der Webseite des Grimme-Instituts (runterscrollen bis „Auftakt und erste Werkstatt“).

 

Popkulturelles Kontextwissen
The Oatmeal fasst das Kreativen-Dilemma kurz und herb zusammen: Vom Wert der Inhalte, die durch Datenleitungen laufen.