Kraftwerk reloaded - Wie geht digitale Zukunft?

Nur wenige Meter trennt die Neue Nationalgalerie vom WZB – dem Wissenschaftszentrum Berlin. Und nur wenige Tage trennt den Kraftwerk-Konzert-Marathon vom Workshop "Digitisation in Foreign Cultural and Educational Policy" – an genau diesen zwei Orten, im Januar 2015. Eine Betrachtung, weshalb beide Events zusammengedacht werden sollten.

Die „Mensch-Maschine“, „Computerwelt“ oder „The Mix“ – das sind nur drei Werke der Elektro-Pioniere Kraftwerk. Die selbsternannten Musikarbeiter aus Düsseldorf haben sich einen festen Platz in der Kunsthistorie gesichert. Digitales – also die Maschine, der Computer, die Daten – sind die Leitthemen, die das Kraftwerk-Universum durchziehen. Schon seit 1970, als Hütter und Schneider die Band formierten, bearbeitet Kraftwerk das Verhältnis zwischen Mensch und Technik – und beeinflusst damit bis heute eine Vielzahl von Diskursen und Akteuren.

Das können Künstler ja oft erstaunlich gut: Zukünftiges antizipieren und visualisieren, mehr noch: spürbar machen. Das ist ein wichtiger Teil dessen, was in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik unter dem Begriff „Foresight“ verhandelt wird – nur mit anderen Mitteln. Und trotzdem hat noch kaum jemand Kunst und (technologisches) Foresight miteinander in Verbindung und an einen Tisch gebracht. Sinnvoll wäre sie, eine interdisziplinäre Mensch-Maschine-Diskussion: Wer kontrolliert und überwacht das Netz? Wer trägt Verantwortung für Fehler autonomer Systeme und künstlicher Intelligenz? Wer diskutiert die Ethik von Big Data? Und wie verschiebt Social Media den Begriff der Öffentlichkeit?

Die Fragen dieser aktuellen Debatten kann natürlich ein Wissenschaftler, ein Digitalkonzernchef, ein Politiker oder eben ein Künstler nicht für sich alleine beantworten. Aber alle genannten können gemeinsam Zukunft gestalten. Indem sie neue Denkräume erschließen und diese gemeinsam mit Visionen, Ideen und Projekten ausstatten. Indem sie eng geführte Diskussionen aufbrechen und perspektivisch erweitern – die Grundlage, um neue Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen zu schaffen.

Vom Ausloten digitaler Zukunft

Im WZB, nur wenige Tage nach Kraftwerks Auftritten in der Neuen Nationalgalerie und nur wenige Meter von ihr entfernt, ist am 16. Januar 2015 genau das passiert: Das ifa – Institut für Auslandsbeziehungen lud Wissenschaftler, politische und institutionelle Vertreter, Multiplikatoren und Kreative kurzerhand in exakt so einen Denkraum ein. Der Hintergrund: Das Institut forscht u.a. zum Thema „Digitalisierung in der Kultur- und Außenpolitik“. Nicht alleine im Elfenbeinturm, sondern im fortlaufenden Diskurs. Und das machte den Workshop für mich und die Mitteilnehmer besonders interessant. Denn wie muss eine moderne auswärtige Kulturvermittlung aussehen, die wahrhaft digital funktioniert, denkt, kommuniziert und interagiert? Kurze Stichproben der Diskussion:

Mercedes Bunz (University of Westminster) sprach über die „public sphere“ und welchen Veränderungen der Begriff „Öffentlichkeit“ durch digitale Kommunikation ausgesetzt ist. An welchen neuen Plätzen die öffentliche Vernunft, der Konsens neu verhandelt wird – oft genug ohne Kenntnisnahme von Politik und „old media“. Und in welchem Spannungsfeld sich Social Media bewegt: als Instrument der Gegenöffentlichkeit und zeitgleich als privatwirtschaftliche Plattformen.

Marc Coté (King’s College London) sprach über Chancen und Herausforderungen von Big Data, über das allgegenwärtige „datified milieu“ menschlicher Lebenswirklichkeit, in Echtzeit getrackt und analysiert durch Maschinen. Wie die Hacker-Szene das Thema Datennutzung und -kompetenz vorantreibt: kreativ, effektiv, politisch. Und wie eine ethische Umgebung, ein ethisches Ökosystem des privaten Datenaustauschs und der digitalen Offenheit aussehen könnte – zum Beispiel als „Big Social Data Commons“-Konstrukt.

Und Anja Adler (NRW School of Governance) zeigte am Beispiel von Liquid Democracy und Adhocracy auf, wie politische Meinungsbildung und digitale Beteiligung funktionieren kann. Wie dieses neue demokratische Modell und diese quelloffene Software in der politischen Praxis eingesetzt werden und welche Erfahrungen sich für ePartizipation, Inklusion und politische Transparenz ergeben.

Verbunden mit einer offenen Chancen- und Risikodiskussion und im Austausch mit den Teilnehmern habe ich viele Perspektiven mitgenommen: über den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu digitaler Interaktion, aber auch über Beharrungskräfte und über Beispiele, diese in neue Bahnen zu lenken. Denn diese personellen und institutionellen Diskursblockaden der Zukunft, oft genug schon des State-of-the-Art, die lassen sich nicht wegdiskutieren. Besonders nicht in der Politik.

Neue Tugenden: Schnelligkeit, Adaptation, Kollaboration und Transparenz

Kraftwerks achttägiger Konzertmarathon trug übrigens den Titel „Der Katalog – 1 2 3 4 5 6 7 8“. Für die Neue Nationalgalerie ging damit ein Kapitel zu Ende: Das Gebäude wurde nach dem letzten Konzert für eine mehrjährige Sanierung geschlossen. Das heißt Neuorientierung, Neukonzept, Neuaufbau.

Eine solche Pause kann sich Politik nicht erlauben. Die Seiten müssen jetzt neu geschrieben werden. Jetzt, während sich das Material unter den Fingern neu formt. Aktuell gilt aber: Politisches Papier funktioniert oft genug eingleisig: es wird beschriftet, in Umlaufmappen gebracht, abgezeichnet, abgeheftet; Papier kann sich Geduld leisten.

Die hochfrequent vernetzten, aktiven Kräfte in Wirtschaft, Gesellschaft und zunehmend in der Wissenschaft nicht. Nicht, weil sie es nicht wollen. Sondern weil sie neues, digital-basiertes Arbeiten mit Iterationen, fortlaufenden Korrekturen, kreativen Adaptationen und Innovationen lernen und zunehmend einfordern (vom Rest der Aufgaben, von der Basisarbeit entlasten sie künftig immer stärker: die Maschinen).

Daraus entsteht nicht nur eine Asymmetrie zwischen politischem Handeln und denjenigen, deren menschliches Zusammenleben der Politikbetrieb regelt (vgl. Definition „Politik“ bei Wikipedia). Aus diesem Ungleichgewicht ergeben sich auch konkrete Fragen, zum Beispiel:

  • Wie reagiert Politik auf dieses Angebot des „perpetual beta“ (Struktur und Prozess)?
  • Für welche Zeiträume wird politische Strategie gedacht und geplant (Dimension)?
  • Welche Zielgruppen, im Land und außerhalb, werden adressiert und einbezogen (Stakeholder)?
  • Und wo sieht sich Politik selbst in der proaktiven Gestaltung, nicht in der schieren Aushaltung des Digitalen und im Bezug zwischen Mensch und Maschine (Inhalt)?

Ludwig Mies van der Rohe verpasste der Neuen Nationalgalerie ein gläsernes Äußeres, damals zur Eröffnung im Jahr 1968. Der Bau war sein letztes Werk und noch heute fließt der Raum, ist offen, erlaubt Sichtachsen, Denkräume, vielfältige Interaktion entlang aller Dimensionen. Etwas, das ich mir auch von deutscher Politik wünsche.

Digitaler Zettelkasten™
Wie weit voraus Kraftwerk ihrer Zeit waren, immer schon, das belegen exemplarisch diese Zeilen aus dem Song „Computerwelt“: „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Finanzamt und das BKA, haben unsere Daten da.“ Digitale Überwachung lässt grüßen. Gesammelte Links zur NSA-Überwachung und -Datensammlung gibt es weiterhin hier.
Und in seiner aktuellen Kolumne schaut sich Kollege Sascha Lobo an, wie es um digitale Verschlüsselung bestellt ist, während Innenminister de Maizière sich selbst den Krypto-Krieg erklärt.

 

Popkulturelles Kontextwissen
Kraftwerk kann digital – und wir reden hier nicht nur von der Musik: 845.000 Likes bei Facebook, 52.700 Follower bei Twitter und 7.500 Abonnenten bei YouTube. Ja, Unboxing-Videos von Kosmetikprodukten knacken bei YouTube locker solche Zahlen. Kraftwerk unboxed sieht übrigens so aus.
Und wer weiterlesen will, dem sei das neue Buch „Electri_City“ von Rüdiger Esch bei Suhrkamp empfohlen. (Danke, Tobias Feld für den Tipp.)
Ein Nachtrag: Eine Stunde BBC-Doku über Kraftwerk, gefunden hier bei Netzpolitik.org.