Spiel die Stadt! Neuer Kongress zu Location Based Games

Manchmal sieht man sie in Deutschlands Straßen zusammenstehen, in kleinen Truppen, den gesenkten Blick konzentriert auf das Smartphone geheftet: Spieler von Location Based Games (kurz LBG).

Mit LGB-Apps wie Ingress und Pokémon Go hat diese besondere Spiel-Form millionenfache Nutzerscharen mobil gemacht. So verlassen Spielende den heimischen Computer und begeben sich in die Öffentlichkeit, suchen reale Orte auf und nutzen die Stadt als große Spielfläche, als weiten Erlebnis- und Begegnungsort.

Neben kommerziellen Angeboten werden aktuell viele weitere Einsatzmöglichkeiten erprobt. Besonders großes Potenzial verspricht der Einsatz in Schulen, in Museen, in Bibliotheken. Wie ortsbezogene Games also im gesamten Bildungsbereich erfolgreich eingesetzt werden können, das untersuchen und erproben die Wissenschaft wie auch die Medienpädagogik.

VOM GAMER ZUM SPIELENDEN STADTFORSCHER

Am 4. April 2017 widmete sich der Kongress „Location based Gaming“ genau diesen Einsatzszenarien: Sieben Experten aus Forschung und Praxis schilderten erfolgreiche Beispiele, diskutierten mit dem Fach-Publikum über pädagogische Potenziale und gaben in Workshops handfestes Wissen weiter.

Im Zentrum der Veranstaltung, die ich als Fach-Moderatorin begleitete, stand der aktive und kreative Einsatz von LBG in Bildungskontexten: Wie können Lehrer, Museums-Pädagogen & Co. mobile Geräte für spielerische Lernprozesse und medienpädagogische Arbeit nutzen? Wie reagieren junge Zielgruppen konkret auf das Draußen-Sein, auf das Spüren der eigenen Mobilität und auf das Neu-Entdecken der eigenen Stadt? Auf das gemeinsame Meistern einer herausfordernden Aufgabe innerhalb eines Gruppenerlebnisses? Und welche Konzepte haben sich bis jetzt als besonders erfolgreich erwiesen?

VON GRABSTEINEN, DATENSCHUTZ UND AGENT X

Einen Überblick über die aktuelle Diskussion gab direkt zu Beginn Torben Kohring, Leiter der FJMK NRW, gefolgt von einer Keynote von Prof. Dr. Judith Ackermann von der FH Potsdam, die Location Based Games wissenschaftlich aufrollte, definierte und analysierte – angefangen vom über das Stadtentdeckungsprinzip Dérive bis hin zum durchaus kontroversen Alternate Reality Game „Tombstone Hold Em“ der bekannten Spieleentwicklerin Jane McGonigal. (Die Keynote findet sich hier.)

Die größten Chancen und Herausforderungen wurden anschließend von 5 Expertinnen diskutiert: Gabi Linde (Leiterin des Festivals Playin’ Siegen), Daniela Rohlf (Amt für Kinder, Jugend und Familie der Bundesstadt Bonn), Linda Scholz (FJMK NRW), Charlotte Krickel (Bildungspartner NRW im LVR-Zentrum für Medien und Bildung) und Prof. Judith Ackermann beleuchteten das Thema LBG erkenntnisreich aus verschiedenen Perspektiven.

Die 5 wichtigsten Aspekte:

  • Eingesetzte Technologien: Technische Ausstattung mit Games, Geräten und Internet (BYOD)
  • Eingesetzte Konzepte: Plattformübergreifende Nutzung sowie Angebote von Biparcours über Actionbound bis Agent x
  • Pädagogische Strategie: Verändertes Lernen durch veränderte Praxis, Aktivierung Jugendlicher vom Konsumenten zum Produzenten eigener LBGs, zum Stadt-, Geschichts- und Demokratie-Entdecker
  • Train the Trainer: Interesse, Wissensstand und Informierung von Lehrenden über neue Plattformen, neue Nutzungsformen, neue Technologien
  • Datenschutz und Überwachung: Sensibler, professioneller Umgang mit orts- und personenbezogenen Daten, Geotracking vs. Anonymisierung

Dass alle diese Aspekte sich sinnvoll vereinen lassen, um digitale Bildungsprozesse jugend- und allgemein: zielgruppengerechter zu gestalten, ist nicht nur ein klares Fazit der Panel-Diskussion, sondern auch der sich anschließenden Workshops. Die Expertinnen stellten darin konkrete Projekte aus Schule, Jugendarbeit, Familienarbeit, Erwachsenenbildung, Museen und Bibliotheken vor und erarbeiteten mit den Fach-Teilnehmenden neue Angebote.

SPIELMUT UND ZUKUNFTSBLICK

Diese Experimentierfreude und diesen Spielmut können auch Wissenschaft, Bildungsinstitutionen und Politik gebrauchen. So bedarf es neuer Forschungsprojekte, die sich empirisch mit dem Einsatz von LBGs und deren Lernpotenzial auseinandersetzen; die zusätzlich Methoden etablieren, um die Erfolge fundiert zu evaluieren. Institutionen können durch mehr Offenheit und Fortbildungsmöglichkeiten punkten sowie die Entwicklung niedrigschwelliger Editoren vorantreiben, die als freie Lehr- und Lernmaterialien (OER) zur Verfügung gestellt werden. Und von Seiten der Politik und Verwaltung fehlt es an der Förderung von Modellprojekten und flächendeckender technischer Ausstattung. Viel zu tun also – und viel zu gestalten.

Mein Dank geht an das aktivste Publikum, das mir je begegnet ist und an die fachkundigen ReferentInnen, die ihr Experten-Wissen mit ruhigem Selbstverständnis teilten. Den Veranstaltern der Fach-Tagung danke ich für diesen wichtigen Kongress, die erfolgreiche Zusammenarbeit und für das Vertrauen: die SK Stiftung jugend + medien der Sparkasse KölnBonn, die FJMK NRW – Fachstelle für Jugendmedienkultur, die Stadtbibliothek Köln sowie an das VHS Forum im Rautenstrauch-Joest-Museum.

Digitaler Zettelkasten™

Ein hervorragendes Pamphlet auf moderne Stadtentwicklung hat der Mediziner und Gründer des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, Alexander Mitscherlich, verfasst. In präzisen, scharfen Worten belegt er, wie die Planung unserer Straßen, Gebäude und Viertel misslingt – und wie sehr mangelnder Mut, überkommene Besitzverhältnisse und fehlende menschenzentrierte Konzepte das Stadtleben ruinieren. Wer sich für Gentrifizierung und neue Raum-Konflikte interessiert, kommt an diesem Buch nicht vorbei – genau so wie alle, die die literarische Form des Pamphlets schätzen und genießen.

Weiterlesen lohnt sich außerdem bei Richard Sennett (hier in einem guten WIRED-Interview über Stadt & Technologie) und Georg Simmel (Verfasser des Standardwerks der Stadtsoziologie schlechthin: „Die Großstadt und das Geistesleben„).


Popkulturelles Kontextwissen

Dancing in the street – David Bowie und Mick Jagger machten es vor, etliche andere folgten und erweckten öffentliche Plätze durch neue Nutzung zu einem anderen, reicheren Leben. Zum Beispiel das Staatsballett Berlin oder das WDR Rundfunkorchester, Stichwort Star Wars.
Neben diesen Cultural Hacks (wieder-)entdecken Stadtbewohner schon seit Jahren den öffentlichen Raum als Platz für Begegnung, Austausch und Diskussionsforum. Unter dem Motto Reclaim the Streets fordern Bürger seit den 70er/80er Jahren den zunehmend kommerzialisierten Stadtraum zurück. Dabei etablieren sie eigene Plätze, wie bspw. den im antiken Griechenland zentralen Versammlungsplatz Agora, und entwickeln neue Nutzungsarten.
Durch Aktionen wie Freerunning oder Critical Mass verschaffen sich Städter dabei zunehmend einen selbst definierten Raum, der scheinbare Grenzen aufzeigt und sprengt. So wird durch Critical Mass die Logik der Straße als reinem Transportweg inklusive Recht des Stärkeren aufgebrochen: Radfahrende fluten zu Hunderten die Innenstädte und schwappen als entspannt fahrende Masse durch den öffentlichen Lebensraum, redefinieren die Polis.
Noch Politischer zeigte sich 2014 das Umbrella Movement in Hong Kong. Um für Demokratie und Teilhabe einzustehen, erbauten Bürger mitten im Finanzdistrikt eine eigene Stadt mit eigenen Prinzipien – inklusive eines Adress-Systems für Hunderte von Zelten, einer funktionierenden Postzustellung, Studierplätzen und Selbstversorgung.