SXSW Interactive 2014: Vorsprung durch Kreativität, Kapital und Katzenvideos

Es ist März 2014 und José überprüft aufmerksam die Tickets einer japanischen Besuchergruppe, die auf der Suche nach dem nächsten Vortrag durch das überfüllte Austin Convention Center wandert.

Neben den Asiaten haben sich erneut zehntausende Teilnehmer aus aller Welt zum global führenden Kongress- und Festivalevent für digitale Themen, der „SXSW Interactive 2014“ eingefunden. Denn wer sich in einer Woche kompakt über die Zukunft der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft informieren möchte, kommt an diesem Kongress in Austin, Texas nicht vorbei.

José, der 65 Jahre alte New Yorker mit feinen Händen und Lachfalten, hat sich als Volunteer, also als freiwilliger Helfer registrieren lassen. Neugierig, charmant, offen, eben wie man es in den USA gewohnt ist, kommen wir in einer Pause ins Gespräch. Seit 30 Jahren lebt er mit seiner Frau Jackie in Austin, hier haben beide ihre Heimat gefunden und vertreten die Stadt mit Stolz – genau wie es eine große Gründerszene aus Internet- und Kreativwirtschaft lebt, eine alt eingesessene Kultur- & Musikszene und auf Tech spezialisierte Unternehmen und Investoren.

Weshalb ich den Weg nach Texas antrat? Ich war nicht nur für mein Panel „Future of Information“ dort, für das ich den führenden US Media-Analysten Ken Doctor und Cory Haik (Washington Post) auf deutsche Medienkenner wie Thomas Knüwer und Ulrike Langer treffen ließ. Darüber hinaus besuchte ich zahlreiche Vorträge und Diskussionen des Kongressprogramms. Mein Travellog mit den 5 wichtigsten Trends und Begegnungen der SXSW Interactive 2014:

1.) WEARABLES: Personalisierte, tragbare Technik

Ein Thema, das eines meiner Projekte – der Kongress CREATIVE.HEALTH – bereits im Januar 2014 in den Fokus nahm, wurde auf der SXSW intensiv diskutiert: eHealth. Die Nachfrage auf Kundenseite nach Health Apps und Fitnesstrackern ist groß – kein Wunder, zumal auch laut dem hiesigen „Neue Werte Index 2014“ des Deutschen liebster Wert erstmals „Gesundheit“ ist. Ein bedeutsamer, globaler Markt mit starken Wachstumsraten, den v.a. große Marken für sich entdecken (s. jüngst Apple’s Healthbook) und mit Aufmerksamkeitsverstärkern bespielen: Basketball-Legende Shaquille O’Neill gab sich z.B. ein Stelldichein, um über technisch gestützte Selbstoptimierung zu sprechen.

Die Gesundheitswirtschaft bleibt dabei nicht die einzige, die sich für Wearables interessiert. Zwei Beispiele: Die Spielewirtschaft und TV-Sender wie HBO testen aktuell die Virtual-Reality-Brille Oculus VR, um ihr Geschäftsmodell auszuweiten und horizontal zu diversifizieren. Und das auf der SXSW allgegenwärtig getragene Google Glass wird nicht nur für die Newsbranche, sondern für sämtliche Akteure der Informationsindustrie relevant sein. Dass Branchengrenzen gerne eingerissen werden, ist übrigens prototypisch für die Gesamtkonferenz. Die Zielstrebigkeit, mit der Industrievertreter sich vernetzen und fachlich austauschen, belegt deutlich, dass die SXSW kein Spielplatz für Nerds ist, sondern ein ernstzunehmendes Business Event.

2.) AWESOME TEAMS: Wissenschaftler + Geeks + Kreative

Die wahrscheinliche schönste Krawatte der SXSW – Kosmos mit Sternen, s. Foto – trug Dr. Neil deGrasse Tyson, seines Zeichens Astrophysiker und Fernsehmoderator. Als Vertreter einer zeitgemäßen Wissen(schaft)svermittlung lieferte er zwei zentrale Einsichten in seiner Keynote:

1.     Dank Internet finden relevante Informationen ihre Abnehmer automatisch – egal wie bekannt oder nischenartig das Thema sein mag. Viele deutsche Verlage sollten sich das Wort „relevant“ nochmals durch den Kopf gehen lassen: Allein der Twitter-Account von deGrasse Tyson zeigt mit 1,7 Millionen Followern, dass „Qualitätscontent“ ein Garant für Reichweite sein kann – und dass das traditionelle Verlagsgeschäftsmodell weiter korrodiert, während journalistische Verbünde wie The Intercept ihre eigene Marke etablieren und mit relevanten Inhalten & Unterstützung selbst zu Publishern werden.

2.     Eine neue Wissenschaftsbegeisterung schwappt über die USA. Getragen wird sie von der Geek- und Nerdkultur, die fundiertes Wissen „umarmt“. DeGrasse Tyson sieht in dieser Bewegung nicht nur die Zukunft der Wirtschaft, der Gesellschaft, sondern auch des Globus: Nerds bilden die neue Elite, die die Welt maßgeblich gestalten und steuern wird. Standortsieger im globalen Wettbewerb sind dementsprechend die Länder, die „Curiosity“ als Standortfaktor begreifen und wissenschaftliche Neugier fördern. Damit könne man nicht früh genug beginnen: „Let your kid break stuff out of curiosity, keep an own budget away for it.“

Damit kommen wir zur dritten Faktor in der Addition: den Kreativen. Die Panelisten der Diskussionsrunde „Combinational Creativity – The Future of Innovation“ bewiesen durchweg Pioniergeist in ihren Unternehmen: Flexibilität, Disruption, Vielfalt, das ließe sich ausschließlich in diversifizierten Teams erzielen. Wie also lässt sich das „genius of the group“ fördern? Mike Germano, Chief Digital Office bei VICE Media, resümiert seine Erfahrungen: „Throw a pinch of chaos into the system – by planting creatives into your company. Artists first!“

Und wer sich einen Master of Fine Arts als Mitarbeiter nicht zutraut, kann auf die Stammbelegschaft setzen: Entgegen des deutschen Systems der Vollzeitauslastung verzeichnen Marktgrößen wie Tumblr eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit, wenn diese nicht ausschließlich und +100% in ihrem Beruf arbeiten, sondern ausreichend Zeit für eigene kreative Interessen haben – der Mehrwert für das Unternehmen, für den Talentpool und die Personalentwicklung seien wirtschaftlich bedeutsam und messbar, so Doug Carmean (ICL Lab Dir / Intel Fellow).

3.) MEOUW: Der globale Markt von Cat Content

1.770.000.000 Ergebnisse spuckt Google auf die Suchanfrage „Cat Video“ aus. Was für eine Handvoll Hobbyfilmer als Spaß begann, hat sich mittlerweile zu einer echten Ökonomie entwickelt: feline Akteure (und ihre menschlichen Manager) nutzen die Kanäle des Internets als veritable Einnahmequelle. Vom Noob zum Profi im Cat-Content-Geschäft: vier Experten diskutierten auf der Bühne über die zahlreichen Verwertungsebenen und ihre Besonderheiten. Events wie das „Internet Cat Video Festival“ erzielen 11.000 zahlende Besucher. Und die Monetarisierung durch YouTube-Partnerschaften funktioniert überraschend gut: Die knapp 50.000 Fans des Channels von „Henri Le Chat Noir“ gehören einer speziellen Zielgruppe an: Frauen im Alter von 40-60, was gleichbedeutend ist mit einem überdurchschnittlichen Gewinn für dort geschaltete Werbung (CPM von $10). Gut für Katze und Kanalinhaber.

Selbst der Begründer des World Wide Web, Sir Tim Berners Lee hat den Erfolg von Cat Content nicht antizipiert. Was lässt sich hieraus ableiten? Popkultur ist ein Faktor im Webgeschäft. Marken tun gut daran, dies zu verstehen, zu durchdringen und mit Internetphänomenen und Memen zu spielen, ohne sie komplett für sich vereinnahmen zu wollen. Es kann sonst sehr grumpy für sie werden.

4.) ON THE EDGE: Netzneutralität & Privatsphäre

Wie das Internet ohne Netzneutralität aussieht? „Well, this isn’t a pretty picture“, begann Andrew Rasiej, Mitgründer von „Personal Democracy Media“ seinen Vortrag. Wir erinnern uns: Netzneutralität, das ist die diskriminierungsfreie, wertneutrale Datenübertragung im Internet. Netzneutralität ist die Grundlage für Internet Freedom und der global relevante Faktor für freie Wirtschaft, für ein florierendes Gründertum, für Demokratie.

Das Format „Net Neutrality: What Now?“ zeigte deutlich auf, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Freiheiten und Rechte auf dem Spiel stehen, wenn das Konzept der Netzneutralität gekippt wird. So erst Anfang des Jahres in den USA passiert, als die FCC (Federeal Communications Commission) als regulierende Instanz gegenüber den Telcos und ihrem Lobbying einknickte und ihre Regulierungsmacht freiwillig abgab.

Eine Regulierungsinstanz, die nicht reguliert, steht das auch Deutschland bevor? Netzneutralität ist hierzulande weiterhin nicht gesetzlich festgeschrieben. Stattdessen beschränkt sich die Diskussion auf den Fingerzeig zu großen Anbietern wie Google, die schuld an der Netzneutralitätsproblematik seien – Andrew Rasiej wirft an dieser Stelle einen neuen Blick auf den Diskurs: nicht Google und Co. seien anzuklagen, sondern sondern Regulierer und Marktkräfte, die webbasierten Diensten ihr Ziel, Wissen global zu teilen, erschweren.

Gibt es Strategien, die Netzneutralität sichern können? Ja.

1.     Breite öffentliche Wahrnehmung und „grassroots pressure“ – also bürgerliche Aktivität, die der Lobby Inhalte entgegenstellt und die Politik/Verwaltung informiert. Denn das Wissen bei letzteren sei weiterhin bescheiden.

2.     Öffentliche Räume zurückgewinnen und zeitgemäß umgestalten für Bürgerinformierung und Empowerment: „Think about libraries as ISPs or: CSPs (Community Internet Provider)“, erläutert Craig Aaron, President & CEO von Free Press.

3.     Internationale Verschaltung und finanzielle Unterstützung aller netzpolitischen Initiativen, wie z.B. La Quadratur du Net in Frankreich

5.) IT´S THE ENTREPRENEURS & CITIZENS, STUPID! Standortentwicklung à la Austin

Was macht einen erfolgreichen Standort aus? Unter dem Stadtmotto „Keep Austin Weird“ (Haltet Austin eigenartig) versammelt die Stadt so ziemlich alles, was ein Standort richtig machen kann: ein großes Gemeinschaftsgefühl und Stolz der Bürger, der Politik und Verwaltung, der Wirtschaft. Die Stadt lebt einen ganz besonderen Vibe der Kreativität und des Gemeinwesens, das ist an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch spürbar.

Davon können deutsche Städte und die Verantwortlichen auf Länder- und Bundesebene einiges lernen – zumal die Akteure in Austin ihr Wissen gerne teilen. Zum Beispiel darüber, wie aus einer Stadt ein Startup Hub werden kann. Grundlegend für den Erfolg sind die 3 großen Cs: Creativity, Capital, Collaboration. Darauf aufbauend nehme man einen strategischen Stadtentwicklungsplan mit Fokus auf Tech und F&E, integriert von Beginn an erfolgreiche Unternehmer und kreative, vernetzte Vordenker und arbeitet mit harten Kennzahlen über u.a. VC Investments, Migration, Kulturen der Kollaboration. All dies geleitet von der Fragestellung „Wie können Startups unserer Stadt helfen – und wie wir ihnen?“

Die Antwort liefert in Austin ein kontinuierlicher Dialog zwischen der Politik, den Clustern, Verbänden, IHKen und der Startup-Szene. Nur so ließen sich Gründer an Ressourcen anbinden. Der Rest des Handwerks ist professionelle Netzwerkarbeit: starke Einbindung der Universität in die Stadt, Inkubatoren, günstige Büroflächen, vermittelt durch einen städtischen Office-Makler und natürlich ein gelungenes Storytelling über Erfolgsgeschichten – nicht schwer in einer Atmosphäre des „We can achieve anything“.

Das Ergebnis: Jeden Tag ziehen 130 Menschen nach Austin. 2013 erzielte die gesamte SXSW eine regionale Wertschöpfung von $218 Millionen Dollar. Wow.

KEY TAKE AWAYS: What´s next, Germany?

Welche Schlüsse müssen NRW, Deutschland und Europa für sich ziehen, um bei den Überthemen digitale Wirtschaft und digitale Gesellschaft anschlussfähig zu bleiben? Mein Resümee der SXSW Interactive 2014:

1.     Eine Vision + fortlaufend aktualisierte Strategie, wie die untrennbaren Themen „digitale Wirtschaft und digitale Gesellschaft“ im Land und Bund gestaltet werden – öffentlich verhandelt statt hinter Türen.
2.     Mehr Offenheit für neues Unternehmertum und webbasierte Geschäftsmodelle, ausreichend Kapital und Unterstützung durch Banken, Kammern und Institutionen zur Ansiedlung und Internationalisierung.
3.     Die Besinnung auf die vorhandenen Stärken der deutschen Industrie (Ingenieurswesen, Security, Health, Kreativwirtschaft) und Offenheit, mit anderen Branchen in Diskurs und Geschäft zu treten.
4.     Eine Mentalität des „Giving Back“, die alle aktiven Kräfte und Kompetenzen in Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik/Verwaltung strategisch bündelt und für den Standort nutzbar macht – zentrale Scharniere sind Unternehmer, Investoren, IHKen, Cluster und Universitäten.
5.     Ein Bündnis, langfristig und politisch über alle Parteien hinweg getragen, das diese Grassroots-Bewegungen einbezieht, sich aktiv mit Branchenakteuren vernetzt, sie konsultiert und von ihnen lernt.
6.     Ein Standortmarketing, das sich das professionell, integriert und modern zeigt und das im internationalen Wettbewerb Bestand hat.

Digitaler Zettelkasten™
Das hervorragende und unterhaltsame Gespräch mit dem Astrophysiker Neil deGrasse Tyson kann man hier in Bewegtbild nachschauen.

 

Popkulturelles Kontextwissen
Die Stadt Austin lebt nicht nur von und mit der SXSW, sondern hat sich seit langem der Musik verschrieben. Unter dem Label „Austin City Limits“ vereinen sich eine Konzertlocation, ein Musikfestival und eine seit 1974 fortlaufende TV Show.