Der Wert des Journalismus – Medientage 2015

Journalistische Exzellenz findet sich an vielen Orten. Guter Journalismus analysiert und informiert, öffnet Wissenshorizonte, stabilisiert Demokratie. Aber fraglich ist: Wie kann er in einem zusammenbrechenden Mediensystem (re-)finanziert werden? Gedanken von den Medientagen 2015.

Den Unkenrufen nach zu folgen müsste der privat-kommerzielle Journalismus schon lange tot sein. Mindestens aber in akuter Schockstarre. Denn seit Jahren befinden sich die Leserzahlen des alten Geschäftsmodells „werbefinanziertes Print“ im freien Fall. Zeitgleich stellt der Umstieg auf digitale Produkte die Verlage vor immer neue Herausforderungen – vom veränderten Rezipientenverhalten (Mobile! Bewegtbild! Interaktion! Lügenpresse!) über neue Ausspielplattformen und -formate (Facebook Instant Articles, Apple News) bis hin zu veränderten Werbestrategien im Web.

Der exzellente, demokratiestabilisierende Journalismus aber braucht Zeit. Und Journalisten, die hinreichend honoriert werden, so dass sie sich diese Zeit nehmen können. Stattdessen werden im Monatstakt ganze Abteilungen zusammengestrichen, freie Mitarbeiter in Scharen freigestellt, das Arbeitspensum der Verbliebenen massiv verdichtet. Das mag ein kurzfristiger Erfolg für die Bilanz sein. Qualitätssicherung und Investitionsfreude in exzellenten Content und nachhaltige Geschäftsmodelle sehen anders aus.

Business case = broken

Während Verlage und Mitarbeiter also um ihre Zukunft kämpfen (oder sich bereits ihrem Schicksal ergeben haben, wie Miriam Meckel in ihrer Keynote beobachtete), riefen die Medientage München in diesem Jahr die „Digitale Disruption“ aus. Verlagschefs, Chefredakteure und der Nachwuchs sprachen über verschlissene und verheißungsvolle Geschäftsmodelle, warnten vor den Auswirkungen von Ad Blocking und diskutierten die Möglichkeiten von Native Advertising oder Content Marketing. Disruptiv im eigentlichen Wortsinn wirkte das meist nicht (vgl. Deutschlandfunk) – dafür sah man Ansätze inkrementeller Innovation, z.B. die gestalterische Neuausrichtung auf das Mediennutzungsverhalten junger Zielgruppen.

Journalismus? Blendlend!

Für mich stach auf den Medientagen etwas anderes hervor: Die Neuinterpretation des bekannten Konzepts namens „Paid Content“. Ein Konzept, das im hauptsächlich werbefinanzierten digitalen Verlagsgeschäft meist unter „ferner liefen“ verbucht wird – und keinesfalls als ein neu erstarkendes Modell, inbesondere im tagesaktuellen Newsgeschäft.

Und so eröffnete Marten Blankesteijn seinen Vortrag dann auch passend mit der Frage, weshalb der gemeine Leser mit lange angefütterter Gratis-Mentalität überhaupt für digitale Inhalte zahlen sollte. Blankesteijn ist Mitgründer der Micropayment-Plattform „Blendle“ und baut sein Geschäftsmodell auf exakt dieser Frage auf: Wie können Reportagen, Interviews oder Hintergrundberichte wieder direkt monetarisiert werden – ohne die übliche Querfinanzierung über Online-Werbung?

Seine Antwort: Ein Online-Kiosk, in dem Leser erstmals einzelne Textprodukte kaufen können. Und zwar ohne direkt eine komplette Zeitung oder Zeitschrift erstehen zu müssen. Unbundling nennt sich das im Fachjargon. Angereichert wird der Dienst durch namhafte Kuratoren und individuelle Themen-Selektion; beides spült dem Nutzer Artikel zu, für die er sich tatsächlich interessieren könnte. Auch der Bezahlprozess wirkt schlank und schlau aufgesetzt, und die Plattform ist in alle relevanten Kanäle im Web verlängerbar, u.a. durch eine durchdachte Personal-Recommendation-Strategie als Trafficbringer.

Eine große Idee mit vielen Fragezeichen

Der erste Eindruck: Blendle platziert sich an einem Punkt der Wertschöpfungskette, an dem die Verlage selbst seit Jahren scheitern: dem einzelnen Textstück, dem Partikularinteresse an einem spezifischen Thema. Ein geschickter Schachzug. Man fragt sich: Weshalb kommt dieser Service so spät auf den Markt?

Und damit sind wir bei den Risiken und Herausforderungen, die Blendle für das eigene und für das Verlagsgeschäftsmodell mit sich bringt:

Brandbuilding: Medien, die sich bis dato durch ein spezifisches, erkennbares Themenportfolio von der Konkurrenz absetzen konnten, laufen beim Unbundling in Gefahr, ihre Marke zu entkernen. Auf der Ebene des einzelnen Textstücks geht die ureigene Zusammenstellung einer Zeitung / Zeitschrift als Unique Selling Point verloren. Auch der Journalist leidet potenziell darunter, dass sich sein Text zwar direkt verkauft, dafür aber ggf. an Reichweite, an einer weiten Leserschar einbüßt.

Pricing: Für den Kunden wirkt die Preisgestaltung im Online-Shop diffus. Denn jeder Verlag kann sein eigenes Pricing vornehmen. So werden Features verschiedener Medien beispielsweise zu vollkommen unterschiedlichen Preisen angeboten. (Der oft gezogene Vergleich, Blendle sei das iTunes für journalistische Produkte, hinkt nicht nur an dieser Stelle.)

Bezahlmodell: Ein Fragezeichen verdient auch das Prinzip Micropayment. Befürworter dieser Zahlungsmethode ziehen gerne andere Industrien heran, in denen sie bestens funktioniert – besonders gerne die Musik- und Gameswirtschaft. Dort zahlen sich Micropayment-Strategien schon seit längerem aus, und auch die Zuwachsraten können sich sehen lassen. Allerdings konsumieren Kunden dieser Industrien ihr gekauftes Produkt nicht einmalig, sondern vielfach (Musiktitel bzw. Game-Items wie Karten oder Waffen) – ein Gegensatz zur Nutzung journalistischer Inhalte, speziell der tagesaktuellen.

Transparenz: Bei eingeloggten Kunden, die über eine Social-Media-Verlinkung zu Blendle gelangen, wird direkt eine Abbuchung vorgenommen – ohne jegliche Ankündigung. Natürlich kann man das als Unternehmen machen und im Nachgang darauf hinweisen, dass ein solcher Artikel kostenfrei wieder zurückgegeben werden darf. Nachhaltiges Vertrauen und Loyalität ließe sich durch ein transparenteres Referrer-System besser erzielen.

Zahlungsbereitschaft / WTP: Und zum letzten und gleichzeitig größten Fragezeichen: Im Digitalen sind Informationen ubiquitär, allgegenwärtig. Ein Blick auf die großen Nachrichtenportale im Netz lässt eine größere thematische Bandbreite teils schmerzlich vermissen, zu oft gleichen sich die Seiten & ihr Themenspektrum. Fehlt aber die Einzigartigkeit journalistischer Inhalte, dann stellt sich die Frage, weshalb ein Leser Geld in die Hand nehmen sollte, um Informationen zu bezahlen, die er zumindest in ähnlicher Form von einem anderen Anbieter erhalten kann. Zusätzlich ist dem Nutzer aktuell nicht eindeutig klar, wie exklusiv ein Textstück bei Blendle tatsächlich ist. Denn Zahlungsbereitschaft lässt sich nicht entwickeln, wenn bezahlte Blendle-Artikel zeitgleich oder kurze Zeit später bei der originären Quelle zu finden sind – und zwar kostenfrei. (Anmerkung: Blendle kooperiert laut Blankesteijn nicht mit Verlagen, die ihren Content komplett frei zur Verfügung stellen – als Beispiel nannte er auf den Medientagen den Guardian. Das spricht für mindestens einen Zeitvorteil, den Blendle von seinen Verlagspartnern erhält und entsprechend monetarisiert.)

Renaissance der Wertschätzung 

Es wird spannend zu sehen, mit welcher Strategie Blendle die Masse von vorgezogenem Exklusiv-Content gegen Payment überzeugen möchte. Und wie erfolgreich das Unternehmen dabei kurz- und mittelfristig ist. Denn allein auf den kurzen, bezahlten Zeitvorteil zu setzen (oder auf Kleinst-Mäzene, die journalistischen Content aus freien Stücken honorieren), stellt doch ein deutliches unternehmerisches Risiko dar.

Abstrahieren wir das reine Geschäftsmodell, kommen wir aber zu einem weiteren interessanten Punkt. Weitergedacht kann das Blendle-Ökosystem nämlich mehr bewegen: Es hat das Potenzial, die Wertigkeit journalistischer Services und Produkte endlich wieder sichtbar zu machen. Daraus könnte eine neue Wertschätzungskultur für journalistische Services und Produkte entstehen. Könnte. Unter den notwendingen Bedingungen, dass die Plattform breit angenommen wird, kanalübergreifend vermarktet wird und nicht nur die angepeilte junge, sondern diverse Zielgruppen für exzellenten Journalismus im Einzelpack begeistern kann.

Im Umkehrschluss wiederum kann Blendle zu einer Rückbesinnungs- und Erziehungsmaßnahme für Verlage werden. In die Einsicht, dass sich Qualität ebenso auszahlt wie Investitionen in Exzellenz, ein einzigartiges Markenprofil und Kooperationen mit neuen Plattformen. Denn den Idealfall, dass ein europäisches (!) Startup dem verlagsbasierten Journalismus seinen Wert wieder aufzeigen und digital an ihn zurückleiten kann, sollte man sich bei aller berechtigten Kritik vorstellen und wünschen dürfen.

Disclaimer: Am Format „Paid Content – Publishing I“ auf den Medientagen München 2015 habe ich als Ringrichterin teilgenommen – gemeinsam mit Inge Seibel-Müller, moderiert von Torsten Zarges.

Digitaler Zettelkasten™
Sehenswert: Miriam Meckel hielt auf den Medientagen eine wichtige Keynote über „Kreative Destruktion“ und die innovationsfaule Verlags- und Werbelandschaft in Deutschland.

 

Popkulturelles Kontextwissen
Der viel zitierte Qualitätsjournalismus fußt auch auf der Arbeit von Korrespondenten. Wire besingt in „Reuters“ Dystopisches aus dem Leben eines eben solchen.